Bishnoi - Wächter der Natur

Ein kleiner Volksstamm lebt nach spirituellen und ökologischen Regeln

Seit über 500 Jahren lebt in der Wüste Thar im Nordwesten Indiens ein Volksstamm, dessen Angehörige bereit sind, die Tier- und Pflanzenwelt des kargen Gebiets mit ihrem Leben zu verteidigen.

Sie würden lieber selbst hungern, wenn sie dafür die Tiere füttern könnten, denn sie glauben daran, dass alle Lebensformen die gleichen Rechte haben. Ihr Guru sagte ihnen, dass diejenigen, die im Kampf um das Leben unschuldiger Tiere und Bäume sterben, direkt ins Paradies kommen würden.
Unsere indische Mitarbeiterin Anupma Bhattacharya machte sich auf die Reise zu den Bishnoi, die für die Auszeichnung kandidieren, die "ersten Umweltschützern in der Geschichte der Menschheit" genannt zu werden.

...von Anupma Bhattacharya
mit Ergänzungen von Thomas Gotterbarm

 

"Eher bringen wir unsere eigenen Kinder um, als dass wir zulassen, dass diese Tiere getötet werden"

Frauen gelten bei den Bishnoi als Symbol der Schöpfung. Deshalb tragen sie lebendige Farben wie Rot oder Orange.

Männer tragen Weiß, das Symbol für Reinheit und Mäßigung.
"Dieses ganze Gerede über den Schutz von Natur und Umwelt wäre viel wirkungsvoller, wenn jeder Mensch die Erde als lebendes, atmendes Wesen betrachten würde"

Für die Bishnoi ist das Pflanzen von Bäumen eine religiöse Pflicht

Die Bishnoi glauben, nach ihrem Tode als Gazelle wiedergeboren zu werden - wenn sie ein gutes Leben geführt haben.

 

Die Wüste steckt voller Widersprüche.

Eine davon ist die Gemeinschaft der Bishnoi im indischen Rajasthan, jenem wüstenhaften Bundesstaat im Nordwesten Indiens entlang der Grenze zu Pakistan. Hier hält die gegenseitige militärische Bedrohung der Regionalmächte einen gewissen Frieden aufrecht, auch wenn dieser - siehe Kaschmir - immer wieder zu kippen droht. Hier stellt Nahrungsknappheit immer wieder die robuste Stämmigkeit der Bauern und Viehzüchter auf die Probe. Hier sind Frauen aus bitterarmen Familien mit schwerem Goldschmuck behängt. Hier verlassen wilde Tiere die vermeintliche Sicherheit des Buschlandes, um zwischen Lehmhütten und Hirsefeldern spazieren zugehen.

Die Bewohner dieser Wüste verehren die Natur in all ihren Erscheinungsformen. Nicht die üppige Natur der alten heidnischen Bauerngesellschaften an den Ufern der großen Ströme dieser Welt, sondern die unbarmherzige Dürre und Trostlosigkeit der Wüste, wo ein einsamer Horizont auf einen grellen, glühenden Himmel trifft. Hier säugen die Frauen verwaiste Gazellenkitze, riskieren ihr Leben für den Schutz der wenigen Bäume, hungern lieber, als den Tieren die knappe Nahrung wegzunehmen und führen ein streng religiöses Leben nach Regeln, die ihr "Guru" (ind. für Lehrer) Jam-baji vor rund 500 Jahren aufstellte.

Nur ein cleverer Trick?

Es war im Jahr 1451, als Jambaji oder Jambeshwar in eine der Kriegerkasten Rajasthans geboren wurde. Zu jener Zeit war die indische Gesellschaft von Kastenkonflikten und Rivalitäten zwischen Hindus und Muslimen tief zerrissen. In Rajasthan herrschte eine extreme Dürre, ausgelöst durch die fortschreitende Abholzung des Landes. Zur Überwindung der Spaltung der Menschen und zur Rettung des verödenden Landes formulierte Jambaji 29 spirituelle und ökologische Regeln, die von den Gläubigen u. a. Mitleid mit allen lebenden Wesen, Schutz der Natur, Wiederaufforstung, Hingabe an Gott, vegetarische Ernährung, Ehrlichkeit und Reinlichkeit verlangen. So entstand die Gemeinschaft der Bishnoi, die heute vor allem um die Stadt Jodhpur ansässig ist und zu den wirtschaftlich erfolgreichsten Bauernkasten Indiens zählt.

"Dies war eigentlich ein ganz cleverer Trick", erklärt Maharadja Swarup Singh, der seinen Palast südlich von Jodhpur erfolgreich zum Hotel umbaute und den Bezirk Luni viele Jahre als Abgeordneter im Landtag von Rajasthan vertrat. Seit 37 Jahren arbeitet der ehemalige Herrscher des Landstrichs mit den hier sehr zahlreichen Bishnoi. "Jambaji wusste, dass er hinduistische und islamische Elemente in seinem neuen Glauben vereinen musste, um mit seiner Botschaft Erfolg zu haben. Er forderte die Bishnoi darum auf, den Hindugott Vishnu als einzigen Gott zu verehren, ihre Toten aber wie die Muslime zu beerdigen, den Körper der heiligen Erde zurückzugeben. Wir Hindus übergeben die Toten dem Feuer, die Mus-ime aber begraben sie in der Erde."

Die Bishnoi jedoch haben eine andere Erklärung für ihre Bestattungsgebräuche, wie Dev Ram aus dem Dorf Guda ausführt: "Man braucht Holz, um die Toten zu verbrennen. Jambaji sagte jedoch, es sei Unfug, einen lebenden Baum zu töten, um eine Leiche zu beseitigen." Also begraben die Bishnoi ihre Toten und stellen dabei noch nicht einmal einen Grabstein auf. "Wir geben der Erde einfach das zurück, was sie uns gegeben hat", erklärt Dev Ram. Nach dem Glauben der Bishnoi wird der Tote dann als Gazelle wiedergeboren - die Inkarnationsform, die jedem Bishnoi als besonders erstrebenswert gilt.

Antilopen gehen auf der Straße spazieren

Wer ein Bishnoi-Dorf besucht, wird erstaunt sein, wieviele Antilopen und Gazellen friedlich vom Wegrand aus den vorbeifahrenden Verkehr beobachten, auf der kargen Steppe an den dornigen Akazienbüschen knabbern oder völlig angstfrei auf der Straße spazieren gehen. Nicht einmal eine Stunde dauert die Fahrt von Jodhpur nach Guda, eine Fahrt, auf der Hunderte von Antilopen und Gazellen zu sehen sind. Keines der Tiere hat Angst. Im Bishnoi-Gebiet haben Tiere und Pflanzen nichts zu befürchten.

"Tiere sind uns heilig," erklärt Bana Ram aus Guda."Auf seinem Sterbebett wies uns Jambaji an, nach seinem Tod die Schwarzbock-Antilope an seiner Stelle zu verehren. Der Glaube besteht noch heute. Die Jagd auf den Schwarzbock wäre für uns gleichbedeutend mit einem Anschlag auf unseren Guru. Sobald nur das Gerücht umgeht, ein Jäger sei in unserem Gebiet unterwegs, versammeln sich 500 Dorfbewohner, um dem Übeltäter eine Lektion zu erteilen. Eher bringen wir unsere eigenen Kinder um, als dass wir zulassen, dass diese Tiere getötet werden." Ein Jäger in Rajasthan fürchtet darum nichts mehr, als in die Hände der Bishnoi zu fallen. "Einmal erwischten wir einen Hauptmann der Luftwaffe bei der Jagd in unserem Gebiet. Wir zogen ihn nackt aus und zwangen ihn, sich mitten im Sommer bei 50° C im Schatten in den heißen Wüstensand zu legen. Der wird nie wieder von der Jagd träumen."

Der Schutz der Natur um jeden Preis ist Teil der Kultur der Bishnoi. Voller Engagement kämpft dieser tapfere, wehrhafte Volksstamm für den Schutz der Fauna und Flora seiner Heimat. Seit die Bewohner von Guda kürzlich einige berühmte indische Filmstars bei der Jagd ertappten, lassen sie Fremde ihr Gebiet nur noch in Ausnahmefällen betreten. M. L. Sonal, der örtliche Forstbeamte, warnt mich sogar ausdrücklich davor, Bishnoi-Dörfer zu besuchen: "Die Bishnoi fühlen sich für den Schutz der Natur so sehr verantwortlich, dass sie gefährlich werden, wenn sie Tiere und Pflanzen bedroht sehen."

"Wir fällen keine Bäume"

In den Dörfern Guda und Khejarli jedoch macht anfängliches Misstrauen schon bald herzlichster Gastfreundschaft Platz. "Sie müssen Ihren Lesern mitteilen, wie zart und zerbrechlich diese Tiere sind", bittet mich der Dorfvorsteher mit dem Foto eines Schwarzbocks in der Hand. "Viele von ihnen bekommen vor Angst einen Herzschlag, so empfindlich sind sie. Wir tun unser Bestes, diese sanften Wesen zu retten, doch was können wir gegen so viele Jäger tun? Es sind die Leute aus Jodhpur, die die Jäger mit dem Versprechen schneller Gewinne hier herlocken."

Auf meinem Rundgang durch das Dorf begegne ich Frauen, die mit schwerem Silberschmuck behängt sind und farbenfrohe weite Röcke und Blusen tragen. Die Männer der Bishnoi kleiden sich ganz in weiß: weiße Turbane, weiße Kurta-Hemden, weiße Dhotis (Wickelröcke). Vor ihren blitzsauberen Lehmhäusern stehen Motorroller und Traktoren, während der Dorfschreiner voller Konzentration Holz bearbeitet. "Die meisten hier im Dorf sind Bauern, Viehzüchter, Milchmänner, Goldschmiede, Bildhauer oder Schreiner", erklärt Maunlal Suta, der Tischler des Ortes. Wie in Indien bis heute üblich, wird das Handwerk vom Vater an den Sohn weitergegeben. "Seit Generationen bearbeiten wir Holz", fährt Maunlal Suta fort. "Nun bringe ich meinem Sohn diese Fertigkeit bei."

Holzbearbeitung? Verstößt das nicht gegen Jambajis Gebot, keine Bäume zu fällen?

"Wir fällen keine Bäume", erklärt Suta. "Wir warten, bis der Baum abstirbt oder in einem Sturm von selbst umfällt. Die Arbeit, die Sie hier sehen," - er zeigt auf einen Haufen halbfertiger Türen, Fensterrahmen und Bettpfosten - "ist das Werk von vielen Jahren, in denen ich geduldig darauf gewartet habe, genug Holz zu sammeln."

Geduld ist überhaupt das Schlüsselwort in dieser einfachen, genügsamen Gemeinschaft. "Nur vier Monate im Jahr können wir unsere Hirse- und Linsenfelder bestellen", berichtet Johra Ram aus dem Dorf Khejarli, wenige Kilometer von Guda entfernt. "Das übrige Jahr sitzen wir herum und hoffen, dass unsere Nahrungsvorräte nicht zur Neige gehen." Dass sich die vielen Antilopen und Gazellen ungehindert an den Feldfrüchten laben dürfen, macht die Versorgungslage noch schwieriger. "Früher wurden regelmäßig 30 bis 50 Prozent der Ernte zerstört", erklärt der zuständige Forstbeamte. "Inzwischen konnten wir diese Quote auf 15 Prozent senken."

Tiere sind die sichtbare Erscheinung Gottes

Mit Gewalt werden die Tiere jedoch nicht fortgejagt. "Wir würden lieber selbst hungern, wenn wir dafür die Tiere füttern könnten," meint der Bauer Bana Ram. "Wir glauben daran, dass alle Lebensformen die gleichen Rechte haben. Unser Guru sagte, dass diejenigen, die im Kampf um das Leben unschuldiger Tiere und Bäume sterben, direkt ins Paradies kommen. Für uns sind die Tiere die sichtbare Erscheinung Gottes." Dies ist der Grund, warum jede Bishnoi-Familie in diesem wasserarmen Wüstengebiet auf ihren Feldern Wasserspeicher anlegt zur Trinkwasserversorgung der Tiere in den langen, trockenen Sommermonaten.

Der Lebensstil der Bishnoi-Gemeinde beruht auf den von Jambaji gelehrten 29 Grundsätzen. "Unser Lehrer untersagte uns den Genuss sämtlicher Rauschmittel, sei es nun Tabak, Opium, Hanf oder Alkohol. Nicht einmal Tee ist uns erlaubt", erklärt ein junger Mann namens Teja Ram. "Jambaji forderte uns auch dazu auf, so viele Milchprodukte wie möglich zu uns zu nehmen und unser eigenes Getreide anzubauen." Wie in Indien üblich, nehmen auch die Bishnoi kein Essen von anderen Kasten und Gemeinschaften an. "Selbst wenn wir auf eine längere Reise gehen, nehmen wir unser Essen von zuhause mit."

Trotz der Kargheit ihrer Heimat und der geringen Überschüsse, die sie mit Ackerbau und Viehzucht erwirtschaften, sind die Bishnoi ganz offensichtlich ein gesunder, wohlgenährter Volksstamm. Dies liegt zum einen daran, dass sie die knappen Ressourcen ihres Landes schonen und darauf achten, dass diese sich regenerieren können. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass die Frauen bei den Bishnoi eine dominante Rolle spielen. "Frauen sind das Symbol der Schöpfung", meint Bhanu Ram aus Guda. "Aus diesem Grund bat unser Guru sie, lebendige Farben wie Rot oder Orange zu tragen. Männer tragen Weiß, das Symbol für Reinheit und Mäßigung."

Einst pflegten die Bishnois auch seltsame Heiratsgebräuche. Wenn das Oberhaupt einer Familie starb, verheiratete man zwölf Tage danach alle unverheirateten Töchter, ungeachtet ihres Alters. "Unser Guru führte diesen Brauch ein, um die Heiratskosten zu begrenzen", erklärt Teja Ram. "Die Sitte hat jedoch noch eine andere Bedeutung. Für uns ist der Tod ein Teil des Lebens. Ein Mensch stirbt, die nächste Generation nimmt seinen Platz ein, und der Kreislauf setzt sich fort. Wir glauben daran, dass man für das, was man in diesem Leben tut, im nächsten Leben bezahlen wird." Teja Ram weist jedoch hastig darauf hin, die vom indischen Gesetz schon lange verbotenen Kinderhochzeiten würden heute nicht mehr praktiziert, "denn es schadet ihrer Entwicklung."

Märtyrer für das Leben der Bäume

Die in der öden, sandigen, von Khejri- und Babul-Akazien durchsetzten Halbwüste lebenden Bishnoi sind eine stolze Rasse. "Wir erhalten keine Unterstützung von seiten der Regierung und wollen auch gar keine", meint Johra Ram. "Jede Veränderung der Welt beginnt mit einer Veränderung der Gesellschaft. Dieses ganze Gerede über den Schutz von Natur und Umwelt wäre viel wirkungsvoller, wenn jeder Mensch die Erde als lebendes, atmendes Wesen betrachten und für ihren Erhalt so kämpfen würde, wie wir dies tun." Er erzählt die Geschichte der Amrita Devi, die zusammen mit 366 anderen Bishnoi ihr Leben für den Schutz von Bäumen opferte. "Vor etwa 200 Jahren brauchte Maharadscha Abhay Singh von Jodhpur Holz für den Neubau eines Palastes. Er schickte also seine Soldaten los, Bäume zu fällen. Amrita Devi und die anderen Dorfbewohner umarmten die Bäume und wurden getötet, als man diese fällte. Als das große Opfer von Khejar-li ging dieses Massaker in die Geschichte ein." Als der Maharadja von dem Vorfall erfuhr, war er so entsetzt, dass er Jagd und Holzfällen im Bishnoigebiet per Gesetz untersagte. Die Verordnung ist noch heute in Kraft, und die Bishnoi pflanzen jedes Jahr 367 Khejri-Akazien zur Erinnerung an das Massaker. Für die Bishnoi ist das Pflanzen von Bäumen eine religiöse Pflicht.

Die Geschichte der Bishnoi-Gemeinschaft weist viele solcher Episoden auf. Ihr Pantheon ist voller Märtyrer, die für den Schutz der Natur starben, und auch die Veränderungen der Neuzeit konnten der Entschlossenheit der Bishnoi nichts anhaben. "Wir sind stolz darauf", meint Bana Ram, "dass die nachwachsende Generation noch mehr für die Umwelt kämpft als wir." Wie auf ein Stichwort hin packt mich ein kleiner Junge, der mit mir kaum Schritt halten kann, am Ärmel und sagt: "Ich werde nie zulassen, dass jemand Tiere umbringt!"

Kaum ein Volksstamm der Erde hat so viel für den Schutz von Natur und Umwelt getan wie diese kleine Gemeinschaft im Nordwesten Indiens. Im Verlauf der Jahrhunderte haben sie es gelernt, die Natur zu hegen und zu pflegen und mit ihr zu wachsen, anstatt sie auszubeuten und zu zerstören.

Die Wirklichkeit ist relativ

Als ich am Abend noch einmal durch das Dorf laufe, sehe ich, wie eine Bishnoi-Frau behutsam ein Gazellenkitz versorgt, das von einem Hund verletzt wurde. Auf den nahen Hirsefeldern tummelt sich friedlich eine Herde Antilopen in der milden Abendsonne. Ist dies Wirklichkeit, frage ich mich, in einer Welt, in der man Tiere zum Vergnügen tötet, oder träume ich? Die Wirklichkeit, sagen die Schriften, ist etwas Relatives. Inmitten von Umweltzerstörung und Verelendung, Korruption, Ausbeutung und Brutalität zeigt uns eine der Natur ergebene Gemeinschaft, wie man mit seiner Umwelt im Frieden leben kann.

Anupma Bhattacharya, 29,
schreibt seit 1993 als freie Journalistin für verschiedene indische Zeitungen und Magazine über Kultur, Literatur und Philosophie